Band 6
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Fortsetzung der … Beratung der Anträge der Abg. Dr. Schofer und Gen., die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten betr. (Drucks. Nr. 61) und Dr. Bernays u. Gen., die Bekämpfung ansteckender Krankheiten betr. (Drucks. Nr. 61a).
Präsident Wittemann eröffnet die Sitzung um ¾4 Uhr …
…
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In Fortsetzung der Einzelberatung … erhalten das Wort
Abg. B o c k (Komm.):
Ehe ich mich …
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Abg. Frau U n g e r (Unabh. Soz.):
Gestern wurde hier gesagt, oder richtiger der Ausspruch eines Professors zitiert, daß es Prostitution gegeben habe, solange es Menschen gibt. Diese Logik ist falsch. Ich bin der Ansicht, daß der heutige Begriff von Moral und Sittlichkeit eine ganz andere Begründung hat. Wenn man die Behauptung zurückweisen will, daß Menschheit und Prostitution in Zusammenhang und zwar in nächsten Zusammenhang zu bringen sind, so muß man auf eines abheben: Solange die Naturgesetze, die im Menschen wirken und schaffen, nicht frei und natürlich sich auswirken können, sondern mit einem Mantel der Lüge und Heuchelei überzogen werden, kann keine gesunde Moral und keine gesunde Sittlichkeit den Menschen durchdringen. Denn alles, was sich nicht frei entwickeln kann, verkrüppelt und gibt ein Zerrbild des Schönen und Edlen, das es sein könnte, wenn es sich voll und frei entwickeln und entfalten könnte. Ein solches Zerrbild ist die Prostitution. Ich will nicht tiefer darauf eingehen, es ist gestern und heute schon sehr eingehend erörtert worden, welche Gründe dafür eigentlich zu suchen sind, wenn wir der Prostitution tiefer nachgehen wollen. Sie liegt nun einmal in unserer Gesellschaftsordnung begründet, in welcher Menschen gezwungen sind, dadurch, daß sie nicht die Möglichkeit haben, sich eine Existenz zu schaffen, hinausgehen auf die Straße, um sich zu verkaufen, und daß es andererseits Männer gibt, die moralisch so tief stehen, daß sie auf die Straße gehen und dort Frauen auflesen, von denen sie nicht wissen, ob sie krank sind, ob sie reinlich sind am Körper, ob sie überhaupt reine Wäsche auf dem Leibe tragen. Die Prostitution ist nicht allein beim Weibe, sondern genau so scharf zu verurteilen bei jenen Männern, die die Prostitution in Anspruch nehmen.
Es gibt aber noch eine andere Prostitution als die, die sich öffentlich verkauft, und das ist die Prostitution, die vorhin angeführt worden ist. Ich behaupte ebenfalls: es gibt auch in der Ehe eine Prostitution. Ich kann mir nämlich absolut nicht versagen, auszusprechen, daß eine Frau, die sich in der Ehe verkauft, genau so minderwertig ist, wie eine Frau, die sich auf der Straße verkauft. Es ist immer ein und dasselbe. Es ist nur für mich als Frau so tief erschütternd, daß der Priester noch obendrein den Segen zu solch einer Ehe gibt.
Die gewerbsmäßige Unzucht ist begründet in unserer Gesellschaftsordnung. Und da diese besteht, müßte die Gesellschaft es sich vor allen Dingen zur Aufgabe machen, das Übel, das sie selbst erzeugt nach Möglichkeit zu verhindern. Das wäre vor allen Dingen zu erreichen durch die Aufklärung, die der Antrag, den wir Frauen unterschrieben haben, verlangt. Aufklärung in Vorträgen! Und da die Vorträge für einen Menschen, der nicht viel gelesen hat, oft zu wissenschaftlich und unverständlich sind, müßte man damit Lichtbilder und Kinovorführungen verbinden. Ich selbst habe die Erfahrung gemacht, wie wichtig es ist, daß solche Vorträge mit Lichtbildern verbunden werden, und zwar zu der Zeit, als ich im Luisenheim zur Kur war. Da haben die Ärzte dieses Hauses über die Tuberkulose und ihre Bekämpfung nicht nur Vorträge gehalten, sondern auch diese Vorträge mit Lichtbildern verbunden. Ich habe nachherunter den Patientinnen die
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nicht alle belesen sind, feststellen können, daß sie alles verstanden haben, was gesagt wurde. Es ist nicht so sehr wichtig, daß Vorträge gehalten werden. Es ist vor allem wichtig, daß die Vorträge, welche gehalten werden, auch von allen verstanden werden. Das ist aber nur der Fall, wenn anhand der Ausführung auch die wirkliche Darstellung dem Auge gegenüber steht. Darum müssen wir darauf bestehen, daß, wenn wir dem Übel einigermaßen zu Leibe gehen wollen – und diesen Willen haben wir doch wohl alle – wir dafür sorgen, daß Aufklärung geschaffen wird.
Mit Paragraphen können wir dieses Übel nicht ausrotten, das wissen wir alle aus Erfahrung. Wie lange bestehen schon die betreffenden Paragraphen? Ist es besser geworden in diesen Verhältnissen? Nein, ich behaupte sogar, daß es noch viel schlimmer geworden ist mit diesen traurigen Zuständen. Das ist ein Beweis dafür, daß das Bestehen der Paragraphen 181, 184 und 36l Abs. 6 absolut nicht eine Besserung bringt, sondern daß dieselben gerade so gut verschwinden können und dabei noch etwas Besseres heraus kommt, nämlich daß die heimliche Prostitution zurückgeht, und eine Dirne, wenn sie erkrankt ist, viel eher zum Arzte geht und sich behandeln läßt, als wenn der Zwang der Anmeldung besteht und die Angst damit verbunden ist, angezeigt und noch mit Haft bestraft zu werden. Die heimliche Prostitution ist für die Volksgesundheit viel, viel gefährlicher als die offene.
Es ist nicht immer nur die heimliche und offene Prostitution, was auf diesem Gebiet zu beklagen ist. Ich habe in Herrschaftshäusern gedient und muß feststellen, daß es für ein Dienstmädchen sehr schwer ist, sich in einem Herrschtshaus zu halten (lebhafter Widerspruch rechts und Unruhe). Meistens sind es die Herren u. die Söhne, die diesen Dienstmädchen nachstellen (Hört, hört! auf der äußersten Linken. – Lebhafte Unruhe und Widerspruch bei den bürgerlichen Parteien). Ich rede aus Erfahrung. Ich muß feststellen, daß das nicht etwa … (Glocke des Präsidenten) …
Präsident W i t t e m a n n (unterbrechend):
Ich kann Ihnen nicht verbieten, Ausführungen zu machen, wie Sie sie eben gemacht haben, aber ich bitte, nicht alles allgemein vorzutragen.
Abg. Frau U n g e r (fortfahrend):
Abwarten, was ich noch anfügen werde! Wenn ich gesagt habe, daß ich aus Erfahrung spreche, so sage ich: ich habe in Herrschafts-häusern gedient und ich weiß, daß in jedem Herrschaftshaus das Mädchen nicht sicher ist vor … (Lebhafter Widerspruch und große Unruhe) … vor dem Herrn …
Präsident W i t t e m a n n (erneut unterbrechend):
Ich rufe Sie zur Ordnung. Das kann ich nicht zulassen, daß Sie so allgemein diese Behauptungen aufstellen,
Abg. Frau U n g e r:
Mir ist das in jedem Haus passiert, in dem ich gedient habe. Ich muß das feststellen (grosse Unruhe). – Lebhafter Widerspruch. – Zwischenrufe. – Heiterkeit). Wenn Sie darüber empört werden, daß ich das aussage, so habe ich ausdrücklich gesagt: ich habe das persönlich erlebt! Lassen Sie mich doch weiterfahren!
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Präsident W i t t e m a n n:
Ich glaube nicht, daß Sie in jedem Herrschaftshaus in Baden gedient
haben.
Abg. Frau U n g e r (fortfahrend):
In den Häusern, in denen ich gedient habe, ist es mir jedenfalls passiert, ich muß das feststellen! Wenn es dann aber Herrschaftshäuser-gibt, in denen es anders – und Sie behaupten ja, daß es nicht überall der Fall ist; man muß einen aussprechen lassen, bevor man in die Höhe fährt - , so muß ich feststellen, daß es eine ganz große Ausnahme ist. In der Regel ist es nämlich nicht so. Holen Sie sich doch einmal die Dienstmädchen und fragen Sie die aufs Gewissen, was sie alles sehen und hören und was sie wissen. Ich habe dort einen tiefen Einblick in die Heiligkeit der Ehe tun können. Wenn ich Ihnen sage, daß der Herr mit seiner Freundin in den Badeort gefahren ist und die „Gnädige Frau”, oft sogar schamlos vor den Dienstboten sich mit dem Freunde benommen hat, so ist das absolut keine Moral und Sittlichkeit und vor allem nicht erzieherisch für die Dienstboten. (Zuruf beim Zentrum: Sie müssen ja in schönen Häusern gedient haben! – große Heiterkeit. – Der Präsident bittet die Zwischenbemerkungen zu unterlassen).
Es ist nun einmal Sitte, daß man, wenn man zur Menge spricht, von dieser verhöhnt wird. Und Goethe hat gesagt: Sag es niemand, sag's den Weisen, weil die Menge leicht verhöhnt!
Sie sehen eben die Dinge von der Seite der Gesellschaft aus, der Sie angehören, und ich von der gesellschaftlichen Perspektive aus, der ich angehöre, und da habe ich eben einen tiefen Blick getan in den gesellschaftlichen, moralischen und sittlichen Sumpf der sogenannten besseren Gesellschaftsklasse. Sie müssen mir wohl das Recht zugestehen, dieser meiner Überzeugung Ausdruck zu geben.
Es ist nun ferner gestern hier gesagt worden, daß Arbeitermädchen in den Konditoreien die teuren Pralinés kaufen. Ich muß darauf noch zu sprechen kommen. Ich habe mich nun heute morgen der Mühe unterzogen und in den Geschäften nachgefragt. Ich möchte gerade die Herren vom Landbund bitten, das anzuhören. (Heiterkeit). Ich habe da angefragt, was für Leute denn eigentlich die teuren Pralinés, die ausgestellt sind , kaufen. (Zuruf: Der Landbund. – Heiterkeit). Da kam eine Antwort, auf die ich wirklich nicht gefaßt war, die mich direkt verblüffte. Man sagte nämlich: Die kaufen die Mädchen vom Lande! (Zuruf: Aha!).
Um nochmals auf meine Ausführungen von vorhin zurückzukommen, möchte ich Sie bitten, den Antrag von Dr. Schofer, Dr. Baumgartner und Gen. abzulehnen. Ich habe begründet, daß man mit Paragraphen absolut unsere gesellschaftlichen Mißstände nicht abändern kann. Nur mit Aufklärung und dadurch, daß man den Menschen das Wissen gibt und ihnen die Gefahren zeigt, können wir erzieherisch und verbessernd auf unser Volksganzes einwirken.
Abg. Dr. G 1 o c k n e r (D. Dem. P.):
Auf die allgemeine Seite der Fragen, die hier gestern und heute Gegenstand der Unterhaltung gewesen sind, bin ich vorgestern schon bei der Generaldiskussion des Näheren eingegangen.
Ich habe mich nur zum Wort gemeldet, um auf die juristische Begründung die zu dem Antrag des Herrn Kollegen
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Dr. Schofer und seiner Freunde gestern von dem Kollegen Dr. Zehnter gegeben worden ist, noch einige kurze Bemerkungen zu machen.
Ich will vorausschicken, daß es selbstverständlich auch mir, wie dem Kollegen Dr. Zehnter vollständig fern liegt, irgendwie die Moral zu schädigen. Der Herr Kollege Dr. Zehnter befürchtet, daß der Übergang zu dem neuen System, wie es bezüglich der Bekämpfung der gewerbsmäßigen Unzucht in dem Gesetzentwurf – Reichstagsdrucksache Nr. 3523 – vorgesehen ist, die Lage verschlechtern werde. Ich habe schon gegenüber den Ausführungen , die der Herr Kollege Dr. Schofer gemacht hat, darauf hingewiesen, daß nach meiner Meinung die Fassung, die die Regierungsvorlage nach dem Reichsratsentwurf erhalten hat, jedenfalls diese Besorgnis nicht rechtfertigt. Denn die Fassung, die der Reichsrat beschlossen hat, braucht jedenfalls zu einer Verschlechterung der Situation nicht zu führen, wenn von der dort eingeräumten Befugnis Gebrauch gemacht wird, daß zur Überwachung der gewerbsmäßigen Unzucht Bestimmungen erlassen werden. Das wird der Herr Kollege Dr. Zehnter ja auch zugeben. Daß solche Bestimmungen bei uns erlassen werden, das glaube ich, wird er ebenso als sicher annehmen, wie ich. Jedenfalls glaube ich, wird der Landtag, wenn die Regierung etwa sich auf den Standpunkt stellen wollte, solche Bestimmungen nicht zu erlassen, mit Entschiedenheit fordern, daß sie erlassen werden, und damit wird dann die Rechtslage dieselbe sein, wie sie seither war. Denn diese Reichsrats-fassung will die gewerbsmäßige Unzucht dann ohne weiteres bestrafen, wenn die zur Überwachung der gewerbsmäßigen Unzucht erlassenen Bestimmungen nicht beachtet werden. Der seitherige § 361 Ziffer 6 RSTGB enthält zwei Alternativen. Er bestraft einmal die Übertretung der Kontrollvorschriften durch Weibspersonen, welche wegen gewerbsmäßiger Unzucht einer polizeilichen Aufsicht unterstellt sind, und er bestraft zweitens die Ausübung der gewerbsmäßigen Unzucht, wenn die Weibsperson gewerbsmäßige Unzucht ausübt, ohne einer solchen Aufsicht unterstellt zu sein. In der Fassung des Reichsrats sind nun diese beiden Eventualitäten zusammengenommen; danach soll die Ausübung der gewerbsmäßigen Unzucht dann strafbar sein, wenn sie unter Übertretung „der zur Überwachung der gewerbsmäßigen Unzucht erlassenen Bestimmungen” ausgeübt wird. Es ist nicht davon die Rede, und es kann davon keine Rede sein, daß durch diese Fassung des Reichsratsentwurfs das Gewerbe, das hier als unehrlich bezeichnet wurde, etwa zu einem ehrlichen, zu einem honorigen Gewerbe, wie der Kollege Dr. Zehnter sich ausgedrückt hat, würde. Die Bestimmungen, die zur Überwachung der gewerbsmäßigen Unzucht erlassen werden sollen, wie sie der Gesetzentwurf voraussetzt, zeigen eben, daß es sich hier nicht um ein erlaubtes Gewerbe handelt, sondern, daß eben ein Gewerbe in Frage steht, das durch polizeiliche Bestimmungen geregelt werden muß. Es ist gegen den Entwurf eingewendet worden, daß dadurch, daß die Erlassung der Bestimmungen den Ländern überlassen wird, die Verantwortung im gewissen Sinne von der Reichsregierung auf die Länder überwälzt wird. Ich glaube, wir können ganz wohl mit einer solchen Regelung zufrieden sein, weil wir hier im Landtag die Möglichkeit haben, darauf hinzuwirken, daß solche Bestimmungen erlassen werden.
Was über die seitherige Art der Reglementierung gesagt worden ist und darüber, daß diese Bestimmungen zur Überwachung der gewerbsmäßigen Unzucht verbessert werden sollten,
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das ist durchaus diskutabel. Wie die Reglementierung zur Verbreitung der Geschlechtskrankheiten dienen soll, wie der Herr Kollege Bock ausgeführt hat, das ist sein Geheimnis, da kann ich ihm wirklich nicht folgen. – Also, ich glaube, es ist auch vom Standpunkt der Herren vom Zentrum, den ich in seiner Tendenz grundsätzlich durchaus billige, nicht nötig, daß in dieser Weise gegen die Bestimmungen dieses Gesetzentwurfes hier bezüglich des § 361 Ziffer 6 RStGB dieser ablehnende Antrag gestellt wird, auf den ich nachher noch einmal zurückkommen muß.
Was die Abänderubg des § 180 RStGB, angeht, gegen die in diesem Antrag ebenfalls Stellung genommen wird, so hat der Abg. Dr. Zehnter diesen Teil des Antrags selbst nicht verteidigt. Darüber habe ich mich nicht gewundert, weil ich den Herrn Kollegen Dr. Zehnter für einen viel zu guten Juristen halte. Ich habe mich aber gefreut, daß er so ehrlich seiner juristischen Überzeugung Ausdruck gegeben hat, daß er in der Beziehung durchaus mit dem übereinstimmt, was Frau Dr. Bernays vorhin und ich schon früher hier ausgeführt haben, daß in der Beziehung das bestehende Recht eine Unmöglichkeit darstellt, und daß man es ändern muß. Wenn nun die Reichsregierung den Mut hat, etwas, was juristisch unhaltbar ist, zu ändern, so darf man dem nicht entgegentreten. Das ist der Hauptgrund gewesen, weshalb ich schon im letzten Jahre bei der Unterhaltung über diesen Gegenstand mich geweigert habe, jene Petition ebenfalls zu unterschreiben, weil ich in der Verbesserung des § 180 des Reichsstrafgesetzbuches nur eine durchaus richtige und nach dem Urteil eines jeden Juristen unbedingt nötige Änderung einer verunglückten und undurchführbaren Bestimmung des Strafgesetzbuches gefunden habe.
Bei der dritten Bestimmung, die eine Änderung des § 184 RStGB bezweckt, da will ich Ihnen zugeben, darüber kann man ja allenfalls streiten. Ob der Herr Kollege Dr. Zehnter recht hat, wenn er sagt: es gibt kein Mittel zur Verhütung der Geschlechtskrankheiten, das mögen die Ärzte ihm beantworten. Ich bin nicht Arzt ich kann nur vom Standpunkte des Verwaltungsbeamten die Sache beurteilen und von diesem Standpunkt aus möchte ich doch die Frage aufwerfen, ob nicht die Möglichkeit der Verhütung der Geschlechtskrankheiten doch eine Änderung des § 184 auch rechtfertigt.
Ich glaube aber, das Hauptbedenken, das gegen den ganzen Antrag juristisch und staatsrechtlich vorzubringen ist, liegt darin, daß der Antrag von der Regierung etwas verlangt, was die Regierung bei der gegebenen Rechtslage Überhaupt nicht auszuführen in der Lage ist. Der Antrag verlangt, die Regierung solle bei der Reichsregierung nachdrücklichst dafür eintreten, daß die Änderungen des RStGB unterbleiben. Die Rechtslage ist aber doch so, daß der Gesetzentwurf am 9. Februar, vor einem Monat, dem Reichstag vorgelegt worden ist. Die Reichsregierung ist also gar nicht mehr in der Lage, ihrerseits darauf hinzuwirken, daß nun an diesem beim Reichstag liegendem Entwurf etwas geändert wird (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten). Der Herr Ministerialdirektor hat gestern auf diesen Punkt hingewiesen. Ich glaube, er ist unbedingt durchschlagend, und das ist für mich der Hauptgrund, daß ich mich dem Antrag, wie er im Lit. a gefaßt ist, meinerseits nicht anschließen kann. Etwas unmögliches von der Reichsregierung zu verlangen, das hat keinen Sinn, das soll man nicht machen, das kann eine parlamentarische Körperschaft, wie der badische Landtag nicht machen, weil er damit nach außen seine Bedeutung schwächt, wenn er
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Beschlüsse faßt, von denen er sich selber sagen muß, daß sie nicht durchgeführt werden können.
Der Lit. b, daß die Regierung ihrerseits selbst alle zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten und zur Überwachung der gewerbsmäßigen Unzucht derzeit bestehenden Vorschrifteh nach bester Möglichkeit durchführen möge, wäre ich in der Lage, mit meinen Freunden zuzustimmen. Ich glaube aber, das ist ein Antrag der selbstverständlich ist und der deswegen hier nicht besonders unterstrichen zu werden braucht.
Dem Antrag der Frau Kollegin Dr. Bernays sind wir selbstverständlich durchaus zuzustimmen in der Lage.
Dem Antrag des Herrn Dr. Schofer u. Gen., Nr. 61 Lit a sind wir aber, obwohl wir grundsätzlich auf demselben Standpunkt stehen wie die Antragsteller, aus den Gründen, die ich ausgeführt habe, nicht in der Lage, zuzustimmen.
Während vorstehender Ausführungen hat II. Vizepräsident Gebhard den Vorsitz übernommen.
Minister des Innern Remmele:
Es widerstrebt ja, auf das, was der Herr Abg. B o c k ausgeführt hat, noch einmal einzugehen. Ich werde mir aber angesichts der Besetzung des Hauses, vorbehalten, auf die Frage bei dem Titel Polizei zurückzukommen.
Frau Abg. S i e b e r t (Zentrum):
Der Antrag der Frau Abg. Dr. Bernays wird unsere Zustimmung erhalten. Wir sind auch der Meinung, daß aufklärende Tätigkeit gegenüber den großen Volksschädigungen notwendig ist. Ich hätte aber statt „durch Filmvorführungen” gerne eingefügt „durch Lichtbilder”. Lichtbilder wirken in dieser Beziehung viel besser, weil sie die Möglichkeit zu Erläuterungen geben. Wir haben während des Krieges, als die furchtbaren Nachrichten über die gesundheitlichen Schädigungen zu uns drangen, hier solche Vorträge veranstaltet. Herr Stadtschularzt Dr. Paul1 hat bei jungen Leuten, ebenso in Müttervereinen, Aufklärungsvorträge gehalten. Diese Vorträge waren von Lichtbildern begleitet, und wenn der Lichtbildervortrag zu Ende war, dann wurde das Geschaute zusammengefaßt und noch einmal besprochen.
Die Bekämpfung von Schmutz und Schund ist ja ein jahrelanges Pogramm der chistlichen Frauenbewegung. Ich will mich heute nicht lange dabei aufhalten. Unser Volk hat schon vor dem Krieg 60 Millionen für Schmutz und Schund ausgegeben. Ich muß nur auf eine Äußerung des Herrn Abg. Dr. Kullmann von gestern zurückkommen. Herr Dr. Kullmann sprach davon, daß man vorsichtig sein müsse. Er formulierte, was Schund sei: daß Schund etwas Minderwertiges sei, das nur mit Rücksicht auf den Gewinn hergestellt und verkauft würde. Dagegen müsse man bei Schmutz etwas vorsichtig sein. Es gäbe da die viel zu Vorsichtigen, die kein Verständnis hätten, wenn die literarischen Sachverständigen ihr Urteil abgeben. Es besteht aber manchmal zwischen Volksbewußtsein und Volksempfinden und literarischen Sachverständigen ein Widerspruch (Sehr richtig! beim Zentrum). Wenn der Künstler seine Gestaltungskraft einem Stoffe leiht aus dem Gebiete der Erotik oder gar der Perversität, dann bedeutet das Kunsterzeugnis eine sittliche Gefahr, auch wenn es in vollendeter künsterischer Form geboten wird. Auch die in reiner künstlerischer Form gearbeitete Schale darf unserem Volk und besonders unserer Jugend kein Gift bieten.
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Dann die Romane,die Herr Abg. B o c k anführte. Die Romane, deren Gegenstand Erotik ist, werden auch von unserem Standpunkt aus als Schund- und Schmutzliteratur bezeichnet, und ich kann auf Bemühungen und Bestrebungen hinweisen, die gerade von unserer Seite ausgehen, durch Verbreitung wertvoller Literatur diesen erotischen Romanen entgegenzuarbeiten. Was unser Volk braucht, sind Verkörperungen großer und reiner Gedanken in der Kunst, denn über Form steht die Idee, und eine Kunst, die dem Unglück und dem Leiden nichts zu sagen hat, erfüllt ihre Mission innerhalb des Volkes nicht.
Zu der Frage der Aufklärung, die, ich weiß nicht mehr, ob Herr Abg. Bock oder Frau Abg. Unger sie im Rahmen des Volksschulunterrichtes wünscht, möchte ich sagen: ich glaube nicht, ob die Volksschule der geeignete Platz ist (Sehr richtig! beim Zentrum). Ich glaube es nicht.Ich möchte behaupten, daß das, was, vielleicht getragen von hohem sittlichen Ernst, innerhalb der Unterrichtsstunde gesagt wurde, nachher in den Pausen in mißverstandener Weise besprochen wird und dann vielleicht in manchem Kind Gedankenverbindungen hervorruft, die besser unterblieben (Abg. Bock: Und jetzt, ohne Belehrung?) Herr Abg. Bock, ich meine die sittlich hochstehende Mutter, die Mutter , die ihre Mission ernst auffaßt, die Mutter, die das Kind geboren hat, ist auch diejenige, die das richtige Wort für ihr Kind findet in der schweren Zeit, wenn seine Augen fragend werden und sie am Benehmen des Kindes merkt, daß die großen Rätsel des Lebens ihm Unruhe bringen (Frau Abg. Unger: Die Mutter, die keine Zeit hat, sich um ihre Kinder zu kümmern!). Die Zeit hat sie! (Abg. B o c k: Wenn sie keine Schule hat in diesen Dingen! - Frau Abg. Unger: Wenn sie selbst nichts davon weiß!). Dann veranstalten wir Aufklärungsvorträge für die Mütter. Aber ich glaube, wir wollen auf die Mütter hier nicht verzichten, wir wollen unsere Mütter dann so schulen, daß sie ihren Kindern das rechte Wort sagen können (Frau Abg. U n g e r: Fortbildungsschule!). Fortbildungsschule ist etwas anderes! In der Fortbildungsschule ist es möglich, daß ein ernstes Wort gesprochen wird, das auf die großen sittlichen Gefahren hinweist, die den jungen Menschen drohen, und ebenso die Gestaltung des Lebens in ehrfürchtiger Weise besprochen werde.
Präsident Wittemann(unterbrechend):
Ich bitte die Frau Rednerin, nicht auf alle Zwischenrufe einzugehen (Zuruf des Abg. Bock).
Frau Abg. S i e b e r t (fortfahrend):
Nun wurde gestern die Frage des Filmdramas gestreift, und es wurde gesagt, daß der kapitalistische Geist Träger unseres Filmelends sei. Und hier muß ich vollständig beistimmen, denn wir wissen, daß heute wieder Milliarden in der Filmindustrie stecken, daß täglich 7 Mill. das Lichtspiel besuchen, und daß von sämtlichen Vorführungen zwei Drittel allein den erotisch-sinnlichen Trieben entgegenkommen. Wir sind deshalb dankbar für die neue Verordnung des badischen Ministeriums des Innern, daß innerhalb Städten, die 15 000 Einwohner aufweisen, obligatorisch Ortsausschüsse gebildet werden müssen, deren Mitglieder dann die Pflicht haben, die Filmvorführungen zu überwachen. Wir haben leider erlebt, daß das Lichtspielgesetz vollständig versagt hat; denn Vorführungen die auf Grund der polizeilichen Ortsausschüsse damals abgelehnt wurden, kamen auf dem Wege des Lichtspielgesetzes zur großen Freude der Filmbesitzer auf Grund der Reichszensur wieder. Wir wollen hoffen, daß diese neue Verordnung des Ministeriums hilft, jenem Geist
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entgegenzutreten, von dem es in der Zeitschrift "Der Filmphotograph" Nr. 437 hieß:
"Glauben denn diese Leute, der großen mächtigen Kinoindustrie je in die Speichen fallen zu können? Sie werden die Filmfabrikanten nie davon abbringen, solche Filmblätter zu bestellen, die der Geschmack des Publikums verlangt."
Es wird hoffentlich die Stunde kommen, wo es doch möglich ist, diesen allmächtigen Filmfabrikanten in die Arme zu fallen.
Nun komme ich zu dem Antrag meiner Fraktion.Der Antrag wollte nicht die große Frage der Prostitution aufrollen. Er will lediglich die Verabschiedung des Seuchengesetzes, des Gesetzes zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, möglich machen, ohne die großen Fragen der §§ 361 und 180 und 181 anzuschneiden.
Wir stehen auf dem Boden, daß die gewerbliche Unzucht von dem Begriff der Strafbarkeit nicht getrennt werden soll; selbstverständlich lehnen wir aber unbedingt die jetzige Fassung des § 36l Ziffer 6 ab, denn sie steht auf dem Standpunkt, den wir von jeher bekämpft haben, der doppelten Moral (Abg. Dr. G1ockner: Im neuen Entwurf nicht!); ich spreche von der jetzigen Fassung. Es handelt sich darum, daß in Zukunft die Mitschuld an der Prostitution für beide Geschlechter zum Ausdruck kommt, und die gewerbsmäßige Unzucht an sich strafbar ist. Die Verweisung an die gesundheitliche Fürsorge allein wird die Geschlechtskrankheiten nicht eindämmen; denn die Prostituierten werden nach wie vor ebensowenig freiwillig den Arzt aufsuchen. Es sei hier an das Bielefelder System erinnert, in welchem die Schutzaufsicht durch Polizeihelferinnen und soziale Organisationen die ausgesprochene Strafe in Fürsorgearbeit umwandelt. 30 Prozent der Prostituierten sind Psychopathen. Die Befreiung der Prostitution aus jeder Fessel würde für unsere Jugend eine ungeheuere Gefahr bedeuten. Trotz des Widerspruches, der in dem § 361 gegenüber dem § 180 liegt, muß eine Formel gefunden werden, welche die Freizügigkeit der Prostitution unmöglich macht. Ich möchte doch die Frage an die Mütter richten: Wenn heute das Wohnen für die Prostitution ganz frei gegeben wird, wo bleibt der Schutz für unsere Familie? Wir können ja wohl sagen, es wird verboten, daß sie in Familien mit Kindern untergebracht werden; aber im Haus selber wohnen doch Kinder und wer heute die furchtbare Gefahr der Illusion für unsere Jugend kennt, der weiß daß hier das sittliche Elend nur vergrößert werden kann. Die vollständige Freigabe des Wohnens an die Prostitution würde bedeuten, daß in Zukunft der Anreiz zur Prostitution noch mehr Opfer fordern würde; denn wer die Frage der Prostitution studiert hat, wer selbst Einblick hat in das Leben dieser Unglücklichen, der weiß, daß hier nur die stärkste Abwehr Schutz bedeutet, der kann sich nicht damit einverstanden erklären, daß der Begriff der gewerblichen Unzucht als Delikt aus unserem Volksbewußtsein schwinde, sondern daß die Abwehr der Sittenlosigkeit und der Begriff von Sittenhoheit und Reinheit Rechtsgüter unseres Volkes bleiben.
Sehr große Bedenken löst auch die Stellungnahme des Gesetzentwurfes zu § 184 aus. Wir alle erinnern uns noch, was während des Krieges von den militärischen Stellen aus in der Beziehung gesündigt wurde; und heute sollen diejenigen Gegenstände, welche als Schutzmittel angesprochen werden gegen Geschlechtskrankheiten, frei ausgestellt werden! Ja, wissen wir denn heute im Zeitalter der Individualpsychologie, der Sexualpädagogik nichts von der großen Bedeutung des Symbols, und welche Gedankenwanderungen, welche Gedankenverbindungen aus dem Anblick dieser Dinge
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im jungen Menschen erstehen können? Darüber wird jeder Psychiater Auskunft geben, und jeder, der es gut mit dem Volke meint. Denn mit der Freigabe wird sofort der Hausierhandel einsetzen, und auch das Verschicken der Prospekte in die einzelnen Häuser (Frau Abg. Unger: Das ist heute schon der Fall!). Leider.
Nun hat gestern der Herr Abg. Rausch gesagt, daß die Prostitution unausrottbar sei, und Herr Abg. Dr. Kullmann hat gesagt, der außereheliche Geschlechtsverkehr könnte überhaupt nie verschwinden, und deshalb müßte man auch die Mittel freigeben, die ihn schadlos machen. Ich will niemand zitieren, der verdächtig ist, von rein katholischen Standpunkt aus zu reden; ich will neben das Wort des Herrn Professors Dr. Rost,das Herr Abg. Rausch zitierte, ein Wort des Herrn Professors Liepmann von Berlin stellen, der ganz gewiß nicht auf katholischem Boden steht, was der von der Prostitution sagt:
„So mußte die Prostitution , ein Produkt aus Nachfrage und Angebot, entstehen in den ältesten Zeiten, der Gegenwart, und sie wird allen Maßnahmen zum Trotz bestehen bleiben, bis wieder das Naturgesetz biologische Einheit erfüllt oder die Welt an ihrer Unnatur zugrunde gegangen ist. …” und an einer anderen Stelle: „So wächst Promiscuität, Dirne und doppelte Moral als Trias auf dem selben Holz widriger, weil der Erhaltung der Art entgegengesetzter, Fäulnis, und wie die Fäulnis eine Alterserscheinung des Holzes oder falscher Lagerung, so ist diese Trias eine Erscheinung der Zivilisation, eine Abkehr von der Natur. Ein Volk das bestehen will , hat nur die Wahl zwischen bewußt gewollter Askese, deren heiliger Endzweck von den Gehirnen beiderlei Geschlechts tief empfunden wird, und dem Drang nach biologischer Einheit, die zu ethischer Heiligkeit, zur Hinaufentwickelung und körperlichen und geistigen Erhaltung der Art führt.”
Und jetzt komme ich zu dem, was über die leichte Lösbarkeit der Ehe gesprochen wurde (Starke Unruhe. – Glocke des Präsidenten. – Zuruf aus der Mitte). Ja, ich muß doch auf das antworten, was gesagt worden ist! Herr Präsident, ich kann diese Ausführungen nicht unbeantwortet lassen (Auf Zuruf: Nur nicht lang!). Ja, Dreihunderttausend unserer Ehen in Deutschland sind kinderlos, weil die Eheschließenden mit Geschlechtskrankheiten behaftet waren. Und nun hat der Herr Abg. Bock die Ehe ein Konkubinat genannt (auf Zurufe von der äußersten Linken): die Ehe sei mit wenig Ausnahmen ein Konkubinat (Abg. Bock: Ja!), „mit wenig Ausnahmen” (Abg. Bock: Ja!) handele es sich um Prostitution und Konkubinat. Ich muß im Namen der Frauen und Mütter protestieren (Sehr richtig! im Zentrum). Man kann ungefähr sagen: Es gibt leider Ehen, die ein Konkubinat darstellen – leider! – ; aber die gröste Anzahl unserer Ehen sind das nicht, sie sind gesund; das beweist das Bekenntnis des deutschen Volkes zur Ehe, welches dieses Volk trotz seines tiefsten Elend als Bekenntnis zum Leben in der Form des Artikels 119 der Verfassung abgelegt hat:
„Die Ehe steht als Grundlage des Familienlebens und der Erhaltung und Vermehrung der Nation unter dem besonderen Schutz der Verfassung.”
(Abg. B o c k: Siehe „Berliner Tageblatt”!). Was Sie, Herr Abg. Bock, als Theoretiker in Ihrer Arbeitsstube sehen, – die vielen Inserate, die Heiratsangebote –, das rechne auch ich mehr oder weniger unter den Mißbrauch des Ehebegriffs, man darf nicht sagen unter den Begriff Konkubinat, weil der Wille zur Lebensgemainschaft besteht. Sie berücksichtigen aber nicht die vielen Stillen im Lande,
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die ihr ganzes Leben in Treue ausharren, die Freud und Leid miteinander tragen, die sich mit ihren Kindern zu einer höheren Ethik hinaufarbeiten wollen, die ihr Glück in den Kindern sehen: diesen ist die Ehe ein Heiligtum (Beifall im Zentrum). Auch hier kann ich mich zum Beleg wiederum auf den Professor Liepmann berufen – also nicht auf einen katholischen Moraltheologen, den man nicht allgemein anerkennt, sondern abermals auf einen Mann der Naturwissenschaft. Dieser sagt:
„So sehen wir in der biologischen Einheit in der
Ehe, wie wir sie auffassen, das heilige Sakrament,
das in sich genetisch die Unmöglichkeit der Lösung
trägt. So führte unser phylogenetischer und ontogenetischer Entwicklungsgang zum gleichen Ergebnis wie die in der Religion begründete Moralanschauung.”
Wenn wir unser Volk lieben, wenn wir es schützen wollen, und wenn Sie ihre Kinder lieben, dann kämpfen Sie dafür, daß der Ehe- und der Familienbegriff wieder rein gestaltet werde! (Sehr richtig! im Zentrum). Wer den Lebensgang unserer großen Männer ins Auge faßt, der sieht, daß sie meistens Kinder aus sehr sehr einfachen Familien waren, in denen jedoch die sittlichen Güter hochgehalten wurden. Keine Zeit mehr als die heutige hat die Erkenntnis nötig, daß der sittliche Reichtum der größere, der wertvollere, ist.
Nun weiß ich recht wohl, daß es im Leben draußen Menschen gibt, denen bei den Worten „Familie”, „Heim und Kind” kein anderes Bild aufsteigt als das einer kalten Wohnung, als das einer Mutter, die auswärts bei der Arbeit ist, vielleicht auch das eines brutalen Vaters oder umgekehrt eines Vaters, der unter der Herrschsucht eines Arbeitgebers litt. Daß in Kindern aus solcher Umgebung kein Elternbild beglückend emporwachsen kann, daß diese Kinder im späteren Leben zum Protest gegen Familie und Familienleben kommen müssen, ist verständlich. Hier liegt ja auch die größte, schwerste und schlimmste Sünde, welche der kapitalistische Geist an unserem Volk verübt: daß er den Eltern das Ehe- und Familienglück, daß er den Kindern das Kindheitsglück zerschlagen hat.
Die, die das anerkennen, sie sind von jenem Geist der Zertrümmerung der Familie getragen, in den uns Frau Abg. Unger mit der Schilderung ihrer Erfahrungen einen furchtbaren Einblick gegeben hat (Zuruf der Frau Abg. Unger). Sie sagten, Sie wären in keinem Herrschaftshaus gewesen, ohne daß Sie nicht sittlicher Gefährdung ausgesetzt gewesen seien; ich liebe das Wort „Herrschaftshaus” nicht, ich meine, wir sagen „Hausfrau” und „Hausgehilfin”. Zu Leuten die den Nachdruck auf das Wort „Herrschaft” legen, Frau Abg. Unger würde ich keine Tochter schicken! Da waren Sie wohl nie in einer Familie, in welcher die Hausfrau sich die Hausgehilfin zur Seite hält, wo sie ihre Kinder lehrt, die Achtung vor dem Familiengenossen auch auf die Hausgehilfin auszudehnen. Dann waren Sie in Familien, in welcher der Mammongeist geherrscht hat; dann waren Sie in Familien, die in ihrer äußeren Aufmachung mehr Anreiz bieten, weil dort der Dienst leichter und besser scheint als in Familien mit einem bescheidenen Einkommen und einer großen Kinderzahl. Daß die Fälle, wie sie vorgetragen wurden, vorkommen, will ich nicht leugnen; aber auch hier muß ich im Interesse unserer Hausfrauen sagen: Ich glaube denn doch, daß diese Fälle zu den Ausnahmen gehören {Frau Abg. Unger: Sie würden staunen, wenn ich die Namen nennen würde). Ich behaupte, daß sie in einem Haushalt mit guter und christlicher Gesinnung unmöglich sind, weil man dort sich der Verantwortung für die Seele der Hausgehilfin genau so bewußt ist wie der Verantwortung für die Seele des eigenen Kindes.
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Ich könnte Ihnen die umgekehrte Erfahrung berichten. Ich habe in der Zeit, in der ich verheiratet bin, nicht ein Mädchen gehabt, dessen Wandel nicht sittlich einwandfrei gewesen wäre (Frau Abg. Unger: Gut, dann haben Sie eben hier die eine Ausnahme, die ich zugegeben habe!- Abg. Dr. Baumgartner: Oho!). Ich arbeite doch aber auch schon viele Jahre lang in unseren Organisationen, ich habe auch schon im kath. Hausgehilfinnenverein gearbeitet und habe unter den ehemaligen und jetzigen Hausgehilfinnen sehr gute Bekannte. Manche der Mädchen haben mir viel anvertraut. Wenn eine zu unserer Organisation kommt und die Mitteilung macht, daß sie sittlich gefährdet sei – da gibt es keine Kündigungsfrist! da heißt es: Überhaupt nicht mehr in das Haus zurückgehen! da wird eine Vertrauensperson geschickt, die den Koffer abholt.
Wenn gesagt wird, die Erleichterung in der Ehescheidung sei ohne weiteres eine Erleichterung für die Frau, so trifft das nicht zu. Mit der physischen Differenzierung der Geschlechter geht die psychische. Was für den Mann sehr oft Freiheit bedeutet, bedeutet für die Frau Preisgabe. Ich könnte leider auch Beispiele angeben, in denen die Familie durch Ehescheidung aufgelöst wurde, oder wo Vater und Mutter auseinander gingen - und wer war der notleidende Teil? Die Frau! die Frau aber stand dem Leben oft schutzlos gegenüber (Abg. Unger: Nein, die Kinder sind der notleidende Teil, nur die Kinder!), ich komme nachher noch darauf! - die Frau stund dem Leben gegenüber verlassen und hilfloser da. Auch die innere Einstellung auf die Ehescheidung wird ihr schwerer, denn die Frau liebt im allgemeinen nachhaltiger als der Mann; die Wunde, welche eine Ehescheidung der Frau schlägt, geht bei ihr viel tiefer als beim Mann.
Und was die Kinder anbelangt, Frau Abg. Unger, so müssen wir daran festhalten: den Kindern bleiben die Eltern in der Erinnerung auch wenn sie auseinandergegangen sind, und das Bild der Eltern, das sie mit sich tragen, wird durch die Lösung der Eltern getrübt.
Wenn ein Kind sich harmonisch entwickeln, wenn es gedeihen soll, dann muß, was auch sonst sich in der jungen Seele vollziehen mag, neben dem Bilde des Vaters dasjenige der Mutter stehen. Wenn Vater und Mutter ihr Bild in dem Kinde zerstören, wenn damit der Autoritätsbegriff, den die Liebe formen soll, zerschlagen wird, dann wird das Kind später ein unglücklicher Mensch. Denn das physische und psychische Verwachsensein der Kinder mit den Eltern ist ja das schönste Geschenk der Natur. Schauen Sie doch nur unsere Waisenkinder an. Wenn ein armes Kind früh elternlos wird und eigentlich keine Erinnerung an die Eltern hat, so ist es ganz wunderbar, wie die Bilder von Vater und Mutter aus dem Unterbewußtsein heraus insofern weiter wirken, als gleichwertige Erscheinungen, wie sie die Kinder unbewußt im Elternhaus erlebten, einen Resonanzboden in ihrer Seele finden. Gerade deshalb geht ja die heutige Waisenpsychologie darauf aus, jedem Waisenkind ein Vater- und Mutterbild zu ersetzen. So, glaube ich, ist die Frage der Ehescheidung und Ehelösung doch nicht nur von dem Standpunkt des eigenen Ich und von dem Standpunkt der Willkür zu lösen. (Frau Abg. U n g e r: Die Sache ist aber die, daß in der Ehe nur Streit und Zank herrscht auf Grund unserer Gesellschaftsordnung! – Glocke des Präsidenten. – Der Präsident bittet die Abg. Unger, nicht soviele Zwischenrufe zu machen)
Ich meine es gibt etwas, da man bei sich selbst anfangen muß. Ich glaube, in vielen Ehen wäre, wenn die Menschen ernst in sich hinein schauen wollten, noch einmal möglich,
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eine gute, tragbare Brücke zu bauen. (Frau Abg. U n g e r: Wenn nur die Wirklichkeit nicht ganz anders wäre! – Heiterkeit). Nun, wir können auch mit Gesetzentwürfen die furchtbaren Schäden der Zeit nicht beseitigen. Unser Ziel muß sein, daß jedes Menschenkind der Gemeinschaft so wertvoll ist, daß seine psychische Erfassung Pflicht wird für Elternhaus und Gemeinschaft, dann wird allmählich die furchtbare Erscheinung der freien Geschlechtlichkeit und der Prostitution zurückgedämmt werden und vielleicht auch einmal eines Tages verschwinden, wenn eine Jugend heranwächst, die wieder die biologische Einheit und Heiligkeit der Ehe erkennt. Der Boden hierfür ist und bleibt das Christentum. Da wird von jeher die Einzeltseele als heiligstes und unsterbliches Gut betrachtet. Und wenn wir den Weg frei bekommen, der uns nicht frei war, neben der Kulturarbeit des Mannes auch die mütterlichen Züge in unser Gemeinschaftsleben hineinzutragen, dann sind wir diesem Ziele einen Schritt näher. Aber da muß in unserer Volksgemeinschaft das ureigentliche Frauentum wieder aufleuchten. Es ist von jener Seite gesagt worden: Nur kein Mitleid! In dem Sinne kann ich es vollständig verstehen. Es gibt aber eine andere, eine tiefere Linie, und diese heißt: Mitleiden! Das heißt, daß die Not und das Elend des Fremden einem zum eigenen Martyrium wird. (Zuruf der Frau Abg U n g e r). Und dieses „mitleiden” ist speziell die Linie des unverbildeten Frauentums. Deshalb will ich schließen nicht mit einem Wort aus der Bibel, obwohl es da sehr viele gäbe, sondern mit einem Wort, das auch dort Verständnis findet, wo die hohen Lebensideale und die Heranziehung der Seelenwerte, die im Christentum liegen, nicht erkannt und nicht anerkannt werden und auch nicht bekannt sind, dem Frauenwort: „Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da”. (Beifall im Zentrum).
Während obiger Ausführungen hat Präsident Wittemann den Vorsitz wieder übernommen.
Abg. D. M a y e r - Karlsruhe (D. Natl.):
Ich möchte nur ganz kurz mitteilen, daß wir den Antrag, der uns als Drucksache Nr. 61 vorgelegt ist, in seinen beiden Stücken zustimmen werden, aber auch dem Antrag, der von den Mitgliedern der Deutschen Volkspartei unterzeichnet ist.
Hier möchte ich allerdings noch eine Bemerkung hinzufügen. In dem Antrag der Deutschen Volkspartei sind auch die Maßnahmen vorgesehen, die man sonst Zusammenfassend als die sexuelle Aufklärung zu bezeichnen pflegt. Ich bin kein Gegner der sexuellen Aufklärung, auch nicht der fachlichen, aber ich warne davor, sich von ihr zuviel vorzustellen (Zustimmung rechts). Wir haben uns im vorigen Landtag darüber des Langen und Breiten unterhalten, und ich beziehe mich darauf. Die sexuelle Aufklärung unserer Jugend kann, abgesehen von den zur Seelsorge berufenen Organen, nachdrücklich und wirkungsvoll nur von Vater und Mutter geschehen.
Ich möchte aber bei dieser Gelegenheit ein Wort der Anerkennung und des Dankes sagen gegenüber einem Manne, der unermüdlich und furchtlos bemüht ist, die Schmutzquellen aufzudecken , damit sie verstopft werden. Es ist ein Landsmann von uns, der in Berlin sitzt und diese Arbeit tut, Professor Brunner. Gerade darum, weil er ein viel angegriffener und gehaßter Mann ist, soll ihm auch von dieser Stelle aus Dank und Anerkennung zuteil werden.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
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Die Beratung … wird geschlossen.
Auf das Schlusswort wird jeweils verzichtet.
Auf Vorschlag des Präsidenten wird die Abstimmung über die beiden Anträge auf die nächste Sitzung verschoben.
Zur Geschäftsordnung erhält das Wort
Abg. B o c k (Komm.):
Ich bezweifle hinsichtlich der Anträge Dr. Schofer und Dr. Bernays die Beschlussfähigkeit des Hauses. Es ist niemand mehr da.
Präsident Wittemann:
Es wird ja keine Abstimmung vorgenommen, …
…
Auf Vorschlag des Präsidenten wird hier abgebrochen.
Mit Zustimmung des Hauses wird die Tagesordnung der nächsten Sitzung festgestellt und diese auf Montag, den 20. März 1922, nachmittags ½4 Uhr anberaumt.
Schluss der Sitzung 7 Uhr.
21:17 Uhr, 16.10.2010